ZURICH ART PRIZE 2023: "DAMIÁN ORTEGA. ESSAY ON EXCHANGE"
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22.10.2023 Ausstellung im Museum Haus Konstruktiv, Zürich, vom 26. Oktober 2023 bis am 14. Januar 2024 - Vernissage am 25. Oktober 2023, ab 18 Uhr
Bild: Damián Ortega, Gewinner Zurich Art Prize 2023 - Foto: Belén de Benito - Image courtesy der Künstler und Centro Botín, Santander
Der jährlich vom Museum Haus Konstruktiv und der Zurich Insurance Company Ltd. vergebene Zurich Art Prize geht 2023 an Damián Ortega (*1967 in Mexiko-Stadt, lebt und arbeitet ebenda). Der Künstler ist der 16. Gewinner der renommierten Auszeichnung. Der mit CHF 100'000 dotierte Preis setzt sich aus einem Budget von CHF 80'000 für die Produktion einer Einzelausstellung im Museum Haus Konstruktiv und einer Preissumme von CHF 20'000 zusammen.
Dem internationalen Kunstpublikum dürfte Damián Ortega spätestens seit seinem Auftritt an der 50. Biennale di Venezia 2003 ein Begriff sein. Damals nämlich präsentierte er in der Gruppenausstellung im Arsenale die Skulptur "Cosmic Thing", einen konsequent in seine Einzelteile zerlegten VW Käfer. An kaum sichtbaren Drähten von der Decke hängend, erweckten die penibel genau platzierten Elemente den Eindruck einer technischen Darstellung (einer sogenannten Explosionszeichnung) des klassischen Volkswagens im Raum.
Es folgten weitere installative Werke mit hohem Wiedererkennungswert, gefertigt aus Gütern des täglichen Gebrauchs, die – gestapelt, gedreht, zerlegt oder auf andere Weise dekonstruiert – auch immer Fragen nach den historischen, politischen und ökonomischen Bedingungen ihrer Produktion im globalen Kontext aufwerfen. Im institutionellen wie im öffentlichen Raum hat Ortega in den vergangenen drei Jahrzehnten eine distinkte künstlerische Sprache entwickelt, die poetisch, humorvoll und spannungsgeladen zugleich ist.
Bild: Damián Ortega, Controller of the Universe, 2007, Gefundene Werkzeuge und Draht, 285 x 405 x 455 cm - Foto: Vicente Paredes - Image courtesy der Künstler und Centro Botín, Santander
Seine berufliche Laufbahn begann Ortega als politischer Karikaturist. In den späten 1980er-Jahren fand er unter anderem über den sogenannten "Taller de los viernes" (Freitagsworkshop) des mexikanischen Konzeptkünstlers Gabriel Orozco zur Kunst. Die Mischung aus Witz und scharfer Kritik, die mit der Rolle des zeichnenden Kommentators einhergeht, und die Einflüsse konzeptueller Herangehensweisen an die Kunst sind Aspekte, die die Arbeit Ortegas bis heute prägen. Sie umfasst neben den Medien Installation und Skulptur auch Fotografie, Video und Performance. Und sie räumt der Zeichnung nach wie vor einen wichtigen Stellenwert ein. Dies zeigt sich zum einen in präzisen Projektzeichnungen, die seit den frühen 1990er-Jahren einen Überblick über die Entstehung zurückliegender Werke liefern. Zum anderen ist Ortegas Werkkonzeption insofern als skizzierend-zeichnerisch zu verstehen, als es sich dabei, so der Künstler, um einen freien Prozess der Erkenntnisfindung handelt; persönlich, spielerisch und ergebnisoffen.
Im Museum Haus Konstruktiv zeigt Ortega unter dem Ausstellungstitel "Essay on Exchange" zwei installative Settings, die sich hinsichtlich ihrer Materialität und Konzeption radikal voneinander unterscheiden und dennoch subtile thematische Berührungspunkte aufweisen.
Der Schwerpunkt der Schau liegt auf der grossen Installation im Erdgeschoss. Dort sind zehn sorgfältig gearbeitete Vitrinen so im Raum arrangiert, dass sie (aus der Vogelperspektive) an Ziffern einer Uhr erinnern. Ergänzt werden sie von zwei vielteiligen Skulpturen, von denen eine auf dem Boden platziert ist und die andere von der Decke hängt.
Sowohl die skulpturalen Werke als auch die in die Vitrinen eingeordneten Objekte – es sind tausende an der Zahl – sind von Hand aus Ton gefertigt. Dieser stammt zum grössten Teil aus dem mexikanischen Gliedstaat Oaxaca; einer Region also, die auf eine lange Tradition in der Fertigung von Töpferwaren zurückblickt. Ortega hat vor einigen Jahren begonnen, sich mit dem natürlich vorkommenden Werkstoff zu beschäftigen. Für seine Ausstellung anlässlich des Zurich Art Prize hat er sich diesem ganz unvoreingenommen zu nähern versucht, indem er sich auf einen "zeichnerischen" Prozess mit offenem Ausgang einliess: Angefangen mit der einfachen Operation, einen kleinen Klumpen Ton in eine handliche Kugel zu formen, entwickelte sich die Idee für die formale Ausgestaltung und technische Verarbeitung des Materials sukzessive aus den Erfahrungen bei der Handhabung.
Dazu Ortega: "Die Stücke entstanden in einer Phase des Experimentierens und des intuitiven Spiels, in der die Keramik dadurch, dass sie auf unterschiedlichste Arten modelliert und gebrannt wurde – vom Rohmaterial bis hin zum Brennen bei hohen Temperaturen – anfing, ihre eigenen Bilder und Verbindungen zu entwickeln". Im Ausstellungsraum wird dieser konzeptuelle und materielle Prozess der Reifung abgebildet, indem die Objekte vornehmlich in der Reihenfolge ihrer Entstehung – im Uhrzeigersinn – präsentiert werden.
Der Kreislauf beginnt mit der ersten Vitrine links vom Eingang ("The Earth Units", 2023). Darin zu sehen ist die händisch zu einer Kugel geformte Masse roher Erde, die die Grundeinheit von Ortegas sequenzieller Materialerkundung bildet. In vier Schritten ist diese um eine, zwei, drei und vier weitere Kugeln so weit angewachsen, dass die grösste Anhäufung in den Händen des Künstlers gerade noch Platz findet. Mit diesen sogenannten "Units" und den fortlaufend um eine Faltung ergänzten "Folds" tastet sich Ortega wortwörtlich an Fragen von Quantifizierbarkeit und (künstlerischer) Wertschöpfung heran.
"Mother: The Part About Private Property"; "The Mother Soil" (2017) in der Raummitte ist die zweite Station des Rundgangs und eine der wenigen bereits bestehenden Arbeiten, die der Künstler in die neue Installation integriert hat. Diese besteht aus einem beachtlichen Brocken Ton, aus dessen Innerem hunderte Klumpen entnommen und rundum auf dem Boden verteilt wurden. Obschon das gesammelte Volumen der Bruchstücke exakt dem entstandenen Hohlraum im Ursprungsobjekt entspricht, hat sich durch die Ausdehnung in den Raum scheinbar sowohl die Materialmasse als auch der Materialwert vermehrt: Die Thematik von Materialität und Wertigkeit wird vertieft, indem Ortega mit einfachen, extrahierenden Handgriffen den Prozess der Wertschöpfung, also die Transformation eines Rohstoffs (hier Erde) in ein Gut mit höherem Wert (Keramik/Kunstwerk) veranschaulicht.
Solche Gedankenspiele und Materialexperimente führt Ortega mit den übrigen Objekten fort. Vitrine für Vitrine formiert sich im Raum eine vielschichtige Abhandlung, ein objektbasierter, räumlicher Essay, der genauso frei über die Erfindung von Waren- und Münzgeld nachdenkt und eine Geschichte des Tauschhandels entwickelt, wie er formale Verbindungen zwischen Münzen, dem Rad und der Töpferscheibe herstellt.
Die Vitrine von "Exchange: The Value of Fragment" beispielsweise beinhaltet modellierte Maiskörner ("Seeds", 2023). Sie stehen für ein neues Tauschsystem, das auf der Fragmentierung eines Ganzen beruht, wobei die tönernen Tortillas daneben ("Dry Tortillas", 2023) ein Produkt darstellen, für das die einzelnen Teile weiterverarbeitet und zu einem neuen Ganzen zusammengefügt worden sind. Und während in der Vitrine "Classification: The Value of Knowledge" die Objekte dem Verhältnis von Kugel, Scheibe, Münze und Währung nachgehen, sollen die kleinen "Wheel Carts" (2023) in "Toys, When the abacus became a wheel" genau das erzählen, was der Titel suggeriert: eine Geschichte des Wagenrades nämlich, das sich aus den Kugeln des berühmten Recheninstruments entwickelt haben soll.
Ins digitale Zeitalter wird das Material Ton schliesslich mit "The Intangible Value: icloud" (2023) katapultiert. Für diese hängende Skulptur sind hunderte Tonkugeln so an Angelschnur befestigt worden, dass sie zusammen eine Hyper-Kugel bilden. Es bildet sich ein immaterieller Raum, eine Art schwebender Datenspeicher, der sich in einem interessanten Spannungsverhältnis befindet zum vergleichsweise archaischen "bodenständigen" Behältnis, dem das Publikum zu Beginn des Kreislaufs begegnet ist. Eine Gruppe kleiner Behältnisse ("Urns: The Value of the Void") bildet die letzte Station und schliesst den Reifeprozess von Material und Konzept ab, "vom Individuellen zum Sozialen, vom Einzelnen zur Gruppe und von der Kindheit bis zum Alter". Und sie führt zurück zum Anfang, zur Erde, mit der alles begonnen hat.
Bild: Damián Ortega, Tortillas Construction module, 1998, 50 Maistortillas, variable Grössen - Foto: Marcus Leith and Andrew Dunkley - Image courtesy der Künstler und kurimanzutto, Mexico City / New York
"Essay on Exchange" spielt gekonnt mit Vorstellungen der Vermittlung von historischem Wissen. Das Setting, wie wir es aus kulturhistorischen Museen in Europa kennen – die Präsentation hinter Glas, die Kategorisierung in Objektgruppen, die Kodifizierung mittels Titelund Untertitel –, bringt ein gewisses Mass an Verbindlichkeit zum Ausdruck und verleiht den Objekten den Status historischer Artefakte. Dieser stellt sich jedoch insofern als äusserst labil heraus, als die Objekte ja erst kürzlich und aus einem Material geschaffen wurden, wodurch sie eben immer auch Kunstwerke und Materialstudien sind. Anstatt mit einer linearen Erzählung und gesicherten Informationen sieht sich das Publikum also einer betont spekulativen und assoziativen Geschichte des Tauschhandels oder Wechsels gegenüber, die abstrakte Prozesse der Wertschöpfung im Alltag und in der Kunst erfahrbar macht und eine interessante zeitliche Überblendung zwischen Kulturgeschichte und Gegenwartskunst entstehen lässt.
Eine ebenso spekulative Verschränkung von Gegenwart und naher Zukunft spielt sich derweil in der Arbeit "Acrylic Ocean" (2023) im ersten Stock des Museums ab, wo der handfeste Ton ephemeren Videobildern weicht. Auf zwei textilen Screens ist je eine 25-minütige Sequenz projiziert, in der Plastiktüten, Getränkeflaschen, Gummireifen und andere weggeworfene Alltagsgegenstände sich wie Quallen, Rochen, Seeschlangen oder anderes Meeresgetier im Wasser bewegen. Die Aufnahmen des ausrangierten, anorganischen Materials vor abgefilmten Unterwasserszenen lassen die Unterscheidung zwischen dem, was natürlich und dem, was künstlich ist, unscharf werden. Musikalisch von süsslichen Tönen untermalt, zeichnet sich ein bedrückendes und zugleich verführerisches Bild: Es zeigt den potenziellen Prozess, in dem unter der Meeresoberfläche Natur und Industrie neue, uns bislang unbekannte Verbindungen eingehen. Hier tauchen, wenn man so will, die Rückstände der Tauschdynamik als neue Lebensform auf und treten nun als Epilog zu Ortegas "Essay on Exchange" zutage.
Damián Ortega kann auf zahlreiche institutionelle Einzelausstellungen verweisen, unter anderem im Centro Botín in Santander (2022), im Garage Museum of Contemporary Art in Moskau (2018), in der Malmö Konsthall (2016) und im Pirelli HangarBicocca in Mailand (2015), im Museo Jumex in Mexiko-Stadt (2014), im Freud Museum London (2013), im Centre Georges Pompidou, Paris (2008), in der Tate Modern, London (2005), in der Kunsthalle Basel (2004) und im Institute of Contemporary Art, Philadelphia (2002).
Hinzu kommen zahlreiche Beteiligungen an Gruppenausstellungen wie "Excepciones normales: Arte contemporáneo en México", Museo Jumex, Mexiko-Stadt (2021), "Latinoamérica: Volver al Futuro", MACBA, Buenos Aires (2018), "Art and Space", Guggenheim Bilbao (2017), "Mexico: Expected/Unexpected", Museum of Contemporary Art, San Diego (2011) und "Made in Mexico", Institute of Contemporary Art, Boston (2003) sowie an der Biennale von Venedig (2003 und 2013), der Biennale von São Paulo (2006) und der Biennale von Havanna (2012).
Ortega wurde für den Hugo Boss Prize (2006) und den Preis der Nationalgalerie für junge Kunst (2007) nominiert. Zudem war er Gast des Berliner Künstlerprogramms des DAAD, Berlin (2006–2007).
Kuratiert von Sabine Schaschl
mhk
Kontakt:
https://www.hauskonstruktiv.ch/ausstellungen/
Auf ch-cultura.ch bereits erschienen:
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Bild: Damián Ortega, Toys: When the abacus became a wheel (detail), 2023, Ton, Holz, Masse variabel