Willi malt den Blues
09.12.2012 Ausstellung "Willi Oertig. Wenn ich etwas bin, dann bin ich ein Indianer" im Kunstmuseum Thurgau, Kartause Ittingen, bis am 31. März 2013
Bild: Güterschuppen, Kradolf, 2012, Öl auf Leinwand, 60 x 80 cm, Privatbesitz (zur Vergrösserung anklickbar)
"Wer malt den Blues? freundlich, zuverlässig, kompetent seit 1971"
Mit diesem und ähnlichen Slogans versieht Willi Oertig unermüdlich Dossiers und Briefkuverts, die seine Gemälde von leeren Strassenzügen, Telefonzellen und Bahnhöfen ankündigen. Er scheint immer unterwegs zu sein - zumindest in seinen Bildern. Er gestaltet Stimmungen, denen eine Sinnbildlichkeit anhaftet, so dass sie zu Projektionsflächen der Entfremdung, aber auch des Fernwehs werden. Willi malt den Blues.
Die
vertraut rotweisse Leuchtschrift streut ihr kaltes Licht über eine entlegene
Tankstelle und lässt die asphaltierte Plattform wie eine Raumstation aus der bodenlosen
Thurgauer Nacht auftauchen. Willi Oertig gestaltet Stimmungen, denen eine
Sinnbildlichkeit anhaftet, so dass sie zu Projektionsflächen der Entfremdung,
aber auch des Fernwehs werden. Seine beschaulichen, märklin'schen
Modelllandschaften und von Nippes gefüllten Interieurs und Städte entleerten
sich über die Jahre hinweg zusehends, bis in den jüngsten Bildern die
Schienenstränge mit beklemmender Sachlichkeit durch steril wirkende Fluren in
die Ferne führen. Während die Tankstellen noch an Roadmovies und Szenerien von
Edward Hopper erinnern, gerinnen bereinigte Küsten und Strände hinter
zubetonierten Uferpromenaden zu Orten unendlicher Traurigkeit. Doch wie der
Blues sind Willi Oertigs Gemälde schön, weil sie in ihrer Ausschnitthaftigkeit
ein spezifisches, aber unbenennbares Gefühl des Verlusts und der Melancholie
ausdrücken.
Nicht nur die Landschaften, auch banale Alltagsgegenstände erscheinen in Willi Oertigs Ölgemälden beunruhigend, mit einem Mal befremdlich: ein deformiert wirkender Zugsitz, ein Strommast, ein Feuerzeug - in der Konzentration auf die Essenz der Dingwelt werden existenzielle Fragen ausgefochten. Der sachliche Umriss der Zimmerpflanze wird zum messerscharfen Grat, an dem die Realität bisweilen ins Halluzinatorische kippt.
Atmosphärisch flimmernd, aufgeladen
durch eine besondere Lichtführung, wird mit den Mitteln der Malerei die
sichtbare Wirklichkeit in eine Bühne verwandelt. Und für einen Augenblick
erfasst der Lichtkegel am Bahnsteig irgendeiner Kleinstadt den ganzen
Weltschmerz einer Gesellschaft in der Warteschleife, auf der Durchreise.
Tankstellen, Bahnhöfe und Stromleitungen, die sich am Horizont verlieren, sie
liegen still im Dämmerlicht, das die Kulissen - sei es in Paris oder in Kradolf
- in diffuses Blau taucht, um einen Moment in diesem Schwebezustand zu
verharren, bevor es sich im Nirgendwo zwischen Tag und Nacht verliert und der
Blues leise klingt.
Willi Oertig wurde 1947 in Zürich geboren, zog 1989 in den Thurgau, wo er seit
1994 in Kradolf lebt. Seine Bilder produzieren Erinnerungen an Motive und
Inhalte, die seit der Romantik über die Neue Sachlichkeit bis hin zur
Dekonstruktion des Abbildungsanspruchs immer wieder neu verhandelt wurden. So
ist es auch die Stringenz, mit der der Autodidakt an einer zeitgemässen Umsetzung
von Grundfragen der Malerei arbeitet, die dieses Werk sehr aktuell erscheinen
lässt.
Die Ausstellung im Kunstmuseum Thurgau stellt anhand einer repräsentativen
Auswahl und Leihgaben die Entwicklung des seit 1965 entstandenen Gesamtwerks
von Willi Oertig dar.
Die gezeigten Werke stammen aus dem Besitz des Künstlers, aus der Sammlung des
Kunstmuseums Thurgau und anderen Sammlungen sowie von einer Vielzahl privater
Leihgeberinnen und Leihgeber.
Zur Ausstellung erscheint eine Publikation im Benteli Verlag die das Werk Willi
Oertigs umfassend dokumentiert und in einen grösseren Kontext stellt. Texte von
Markus Landert, Ute Christiane Hoefert, Bruno Hug und Stefanie Hoch geben
Einblick in das passionierte Schaffen des eigenwilligen Künstlers und definieren
anhand von Beispielen die Bedeutung des Malers in der Kunstgeschichte.
Mit ca. 130 Abbildungen auf 208 Seiten, Format 28 x 23 cm, Hardcover, Preis CHF
58.-, ISBN 978-3-7165-17543. Zu beziehen im Kunstmuseum Thurgau oder über den
Buchhandel.
kmt
http://www.kunstmuseum.ch/xml_1/internet/de/application/d8/f115.cfm?action=ausstellung.show&id=83