"RUDOLF STINGEL"
04.06.2019 Ausstellung in der Fondation Beyeler, Riehen/Basel, bis am 6. Oktober 2019
Bild: Rudolf Stingel, Untitled, 2018, Öl auf Leinwand, 241.3 x 589.3 cm, 3 Teile, je 241.3 x 193 cm - © Rudolf Stingel - Foto: John Lehr
Die Fondation Beyeler widmet ihre Sommerausstellung 2019 dem zeitgenössischen Maler Rudolf Stingel (geboren 1956 in Meran, lebt in New York und Meran). Sie präsentiert Stingels bedeutendste Werkserien aus allen Schaffensperioden der letzten drei Jahrzehnte und gewährt so einen umfassenden Überblick über seine vielfältige künstlerische Praxis.
Die Ausstellung in der Fondation Beyeler ist die erste grosse Werkschau von Rudolf Stingel in Europa nach derjenigen im Palazzo Grassi in Venedig (2013) und die erste in der Schweiz seit jener in der Kunsthalle Zürich (1995). Sie erstreckt sich über insgesamt neun Säle des gesamten Südflügels der Fondation Beyeler und zusätzlich temporär über die beiden Räume des Restaurants im Berower Park.
Von Raum zu Raum konzipiert, folgt die von Gastkurator Udo Kittelmann in enger Zusammenarbeit mit dem Künstler eingerichtete Ausstellung keiner strengen Chronologie, sondern zielt vielmehr auf ein spezifisches Gegenüber einzelner bildnerischer Werke, deren Auswahl und Positionierung speziell auf die von Renzo Piano entworfenen Räume abgestimmt sind. Einige Werke werden im Rahmen der Ausstellung erstmals öffentlich gezeigt. Zudem werden neue ortsspezifische Installationen präsentiert.
Wie kaum ein anderer Künstler seiner Generation hat Rudolf Stingel den Begriff dessen erweitert, was Malerei sein kann und wodurch sie definiert wird. Seit Anbeginn seiner Karriere in den späten 1980er-Jahren erkundet er ihre Möglichkeiten und medienspezifischen Grenzen im Wechselspiel künstlerischer Verfahren, Materialien und Formen. Ausgehend von seiner Auseinandersetzung mit klassischen Bildthemen entwickelt er einen Reichtum motivischer Variationen. Neben verschiedenen Serien abstrakter und fotorealistischer Gemälde entstehen grossformatige Werke aus Styropor, aus Metall gegossene Bilder sowie mit Teppichen oder silbernen Dämmplatten ausgekleidete Räume, die berührt und betreten werden dürfen.
Bereits ein Blick in Stingels erstes Künstlerbuch, 1989 unter dem Titel Anleitung erschienen, gibt Aufschluss über seine unkonventionelle Haltung. In sechs Sprachen und begleitet von illustrierenden Schwarz-Weiss-Fotografien beschreibt er darin jeden einzelnen Herstellungsschritt seiner mithilfe von Tüll und Emaille geschaffenen abstrakten Gemälde: Ölfarbe soll demnach mit einem handelsüblichen Rührgerät angemischt und auf die Leinwand aufgetragen werden. Darüber wird eine Schicht Tüll gelegt und mit Silberfarbe besprüht. Entfernt man den Tüll anschliessend, bleibt eine scheinbar dreidimensionale Farbfläche zurück, die an eine von Adern durchzogene Landschaft erinnert. Die Anleitung suggeriert: Befolgt man diese, offenbar ganz einfach umzusetzende Handlungsanweisung, so kreiert man einen eigenen "Stingel".
Doch lässt man sich weiter auf dieses Gedankenspiel ein, so wird schnell deutlich: Selbst wenn alle Handlungsschritte genau beachtet werden, mag vielleicht ein wunderschönes Werk entstehen, doch eigenständig ist es keineswegs - denn man selbst bleibt dabei stets die ausführende Hand des Künstlers und Teil eines von ihm erdachten Konzepts. In einer humorvollen und selbstironischen Weise kommentieren die Anleitungen somit Kunstmarkt und Kunstbetrieb.
In den frühen 1990er-Jahren erweitert Stingel sein Repertoire und schafft neben abstrakten Gemälden erstmals ortsspezifische Werke. In seiner ersten Galerieausstellung, 1991 in der Daniel Newburg Gallery in New York, wartet er nur mit einer einzigen Arbeit auf: Der gesamte Galerieraum ist mit einem leuchtend orangefarbenen Spannteppich ausgelegt, die Wände bleiben komplett frei.
Wenig später präsentiert er andernorts in einer weiteren Variation erneut einen einfarbigen Spannteppich, der nun aber an einer Ausstellungswand angebracht ist. Während die Besucherinnen und Besucher der Daniel Newburg Galerie unfreiwillig auf dem am Boden ausgelegten Teppich ihre Fussspuren hinterliessen, sind sie nun eingeladen, mit den Händen, grossen Pinselstrichen gleich, die Teppichoberfläche zu glätten oder aufzurauen. Der Teppich wird zu einem Bild, in dem malerische Gesten zunächst sichtbar, nach und nach jedoch wieder verwischt und überschrieben werden.
Ende der 1990er-Jahre beginnt Stingel damit, handelsübliche Styroporplatten zu bearbeiten. Als Bilder an der Wand hängend präsentiert, zeigen diese flächendeckend eingeritzte Linien und Muster oder aber die Fussabdrücke des Künstlers.
Seit Anfang der 2000er-Jahre lässt Stingel ganze Räume mit reflektierenden, silbernen Dämmplatten auskleiden, die dazu einladen, in dem weichen Material Botschaften, Initialen oder gestische Zeichen zu hinterlassen. Diese Installationen zielen also auf Teilhabe, doch unterliegen sie den gleichen werkimmanenten Einschränkungen wie die gemäss der früheren Anleitung gefertigten Arbeiten: Zwar kann jede Besucherin und jeder Besucher am künstlerischen Prozess der Entstehung des Werks mitwirken und sich in diesem verewigen, doch geschieht dies immer nur als zufälliges, unkontrollierbares Moment innerhalb der vom Künstler vorgegebenen Rahmenbedingungen.
Auf eine vergleichbare Weise kalkuliert Stingel mit dem Zufall bei einigen seiner Ölgemälde. Fertig gemalte Leinwände breitet er für längere Zeit auf dem Atelierboden aus, sodass sie die Spuren des alltäglichen künstlerischen Prozesses aufnehmen. Farbspritzer und Fussabdrücke legen sich so über abstrakte und fotorealistische Malerei.
Stets konzentriert sich der Künstler nicht auf das Einzelwerk als solches, vielmehr gestaltet er eine ganze Reihe um ein bestimmtes Motiv kreisender, vergleichbarer und miteinander verbundener Werke. Ein Motiv kann zwischen Bildern und Materialien wandern und in ganz verschiedenen Versionen auftauchen. Der vormals bei Daniel Newburg in der Horizontalen gezeigte leuchtend orangefarbene Spannteppich etwa begegnet als neues Werk an einer Wand in der Ausstellung der Fondation Beyeler wieder. Die von Stingel in Auftrag gegebene Fotografie einer Hand mit Spritzpistole, die einst seine Anleitung illustrierte, ist anlässlich der Ausstellung in ein grossformatiges fotorealistisches Gemälde übersetzt worden. Die Einritzungen, die frühere Installationen aus Celotex-Platten zierten, hat er ausschnitthaft in einem aufwändigen und zeitintensiven Prozess in tonnenschwere Bilder aus Metall übertragen. Ein solches, zwölf Meter langes Werk wird in der Ausstellung zu sehen sein.
Muster historischer Tapeten oder Teppiche ebenso wie die Motive vorgefundener Fotografien haben vergrössert und unter Einbeziehung der Spuren, die die Zeit auf ihnen hinterlassen hat - etwa in Form von Staub und Fingerabdrücken -, als fotorealistische Malerei ihren Weg auf die Leinwand gefunden. Auch verschiedene Werke dieses Typs werden in der Ausstellung präsentiert.
Was alle Werke Stingels somit ungeachtet ihrer materiellen Unterschiedlichkeit verbindet, sind die zufälligen oder bewusst gesetzten Spuren des Malerischen. Zeit und Zufall, Veränderung und Zerstörung treten auf der Oberfläche in Erscheinung. Auf diese Weise formulieren Stingels Arbeiten ganz grundsätzliche Fragen zum Verständnis und zur Wahrnehmung von Kunst, zu Erinnerung und Vergänglichkeit.
Einige Gemälde sind erst in diesem Jahr in Stingels New Yorker Studio entstanden und werden im Rahmen der Ausstellung erstmals gezeigt. Dazu gehört das bereits erwähnte grossformatige fotorealistische Gemälde einer Spritzpistole, das im ersten Saal präsentiert wird und auf ebenso wunderbare wie anschauliche Weise den Rundgang durch die Ausstellung einleitet. Es macht gleich zu Beginn deutlich, auf welch unkonventionelle Mittel Stingel bei der Herstellung seiner Bilder zurückgreift. Denn es ist ja die Spritzpistole, die im Falle der abstrakten Gemälde als dessen Werkzeug, sozusagen als sein Pinsel, fungiert.
Es ist sinnfällig, dass Stingel anlässlich der Ausstellung auch ganz neue abstrakte Gemälde geschaffen hat, für deren Anfertigung er genau diese, in seiner Anleitung beschriebene Technik angewendet hat. Entstanden ist eine Serie von fünf - in der Ausstellung einen ganzen Saal bespielenden - Werken, die farblich zwischen Rosa, dunkleren Purpurtönen und Silber changieren.
Darüber hinaus werden drei neue ortsspezifische Werke zu sehen sein. Eine Wandarbeit aus orangefarbenem Teppich lädt dazu ein, mit den Händen Spuren zu hinterlassen und so temporär in die Werkentstehung einzugreifen. Eine zweite Installation aus Teppich nimmt die gesamte Querwand des Museums ein und breitet sich in einem der Säle aus. Sie zeigt - in starker Vergrösserung und in Schwarz-Weiss - das Motiv eines persischen Sarugh-Teppichs.
Ein Werk aus Celotex-Dämmplatten wiederum zieht sich über mehrere Wände innerhalb der Ausstellung und greift zeitweise auch auf die Räume des Restaurants der Fondation Beyeler im Berower Park aus.
Die ganze Vielfalt des künstlerischen Œuvres Stingels und dessen dezidierte Auseinandersetzung mit der Malerei spiegeln sich nicht zuletzt auch in dem begleitend zur Ausstellung erscheinenden Katalog wider: Als Künstlerbuch angelegt und von dem bekannten Grafiker Christoph Radl gestaltet, gewährt er mit 475 Abbildungen auf 380 Seiten einen umfassenden Einblick in Rudolf Stingels künstlerisches Schaffen.
fbb
Kontakt:
https://www.fondationbeyeler.ch/ausstellungen/
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