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"MORGAN IS SAD TODAY - EIN RADIKALES PROJEKT VON JEAN-PIERRE MAURER UND ROBERT MÜLLER (1968)"

"MORGAN IS SAD TODAY - EIN RADIKALES PROJEKT VON JEAN-PIERRE MAURER UND ROBERT MÜLLER (1968)"

15.03.2023 Ausstellung Fotostiftung Schweiz, Winterthur, vom 16. März bis am 4. Juni 2023


Bild: Jean-Pierre Maurer / Robert Müller, aus "Morgan Is Sad Today", 1968 © Jean-Pierre Maurer / Robert Müller

"Morgan Is Sad Today" gehört zu den unkonventionellsten und sperrigsten Fotobüchern der Schweizer Fotogeschichte. Es wurde in den späten 1960er-Jahren von den beiden jungen Fotografen Robert Müller (19422018) und Jean-Pierre Maurer (*1942) konzipiert, blieb aber als druckfertige Maquette fast 50 Jahre liegen, bis es 2015 vom Verleger Patrick Frey entdeckt und in praktisch unveränderter Form publiziert wurde. Das Werk ist von einer verblüffenden Radikalität. Wild und ausgelassen beschwört es das Lebensgefühl der jungen Menschen, die überzeugt waren, in eine bessere und freiere Welt aufzubrechen. Dieser Aufbruch ging mit einer frivolen Demontage des Establishments und lustvoller Kritik an bürgerlichen Konventionen einher und spiegelte sich auch in der Fotografie. Die Originalfotografien werden nun erstmals in der Fotostiftung Schweiz ausgestellt eine höchst erstaunliche Wiederentdeckung.

Müller und Maurer fügten über 100 Bilder zu einem assoziativen Reigen voller Rätsel und Brüche, wobei meistens unklar bleibt, von wem die einzelnen Aufnahmen stammen. "Morgan Is Sad Today" ist gewissermassen ein kollektives Produkt, in das auch Rohmaterial aus anderen Quellen (zum Beispiel Pressebilder oder Comics) eingearbeitet wurde. Die Bildsequenzen bewegen sich zwischen Inszenierung und Wirklichkeit, bleiben fragmentarisch oder ergiessen sich ausufernd über die Betrachtenden: ein Stream of Consciousness, mal näher bei einem Nouvelle-Vague-Film, dann wieder wie der schrille Live-Act eines Rockkonzerts.

Immer wieder werden die Regeln der "guten" Fotografie über Bord geworfen. Extreme Kontraste, Spielereien mit Unschärfe und grobem Korn, skurrile und spontane Happenings, sorgfältig geplante Absurditäten im Studio sowie Verfremdungen bis zur Unkenntlichkeit gehören zum Repertoire einer Ästhetik des Widerstands, die sich einer "vernünftigen" Logik entzieht.

Als Autor für einen begleitenden Essay konnten die beiden Fotografen den bekannten italienischen Designer Ettore Sottsass gewinnen; dieser lieferte allerdings keinerlei bildbezogenen Erklärungen, sondern beschrieb ebenso frei und ausschweifend wie die Fotografen den Zeitgeist der 1960er-Jahre ein Manifest gegen das hohle Pathos und die Lügen der Politik und ein Plädoyer für ein Leben im Einklang mit dem Universum. Für die gedruckte Version von 2015 steuerte auch Sandro Fischli einen erhellenden Text bei.

Mit dem Titel ihres Buches spielten Maurer und Müller auf den Film "Morgan A Suitable Case For Treatment" an. In diesem 1966 erschienenen englischen Streifen von Karel Reisz will der exzentrische junge Maler Morgan mit verrückten Einfällen und seinem Gorilla-Spleen seine Ehefrau, die sich von ihm getrennt hat, zurückholen. Die Freiheit des Aussenseiters kollidiert mit den rigiden Konventionen der Upper Class; am Ende findet sich Morgan im Irrenhaus, wo er seine Träume und marxistischen Ideale unerschütterlich weiterlebt. Die im kruden Stil des "Free Cinema" gefilmte Komödie verwischt die Grenzen zwischen Realität und Fantasie, zwischen Ernst und Komik. Einmal singt der Protagonist vor sich hin: "Morgan is sad today, sadder than yesterday..." ist er traurig, weil sein Plan nicht gelingt? Oder weil die Menschheit immer noch mit der Macht des Bösen ringt, statt in einer Welt voller Liebe und Frieden ihr Glück zu finden?

"Es gab einen universellen Konsens darüber, dass alles, was wir taten, richtig und gerecht war und dass wir gewinnen würden", schrieb Hunter S. Thompson 1971 in seinem Kultbuch "Schrecken und Angst in Las Vegas" mit Blick auf die Jugend der 1960er-Jahre. "Wir ritten auf der Schaumkrone einer hohen und wunderschönen Welle" ein treffendes Bild für die Stimmung, die auch "Morgan Is Sad Today" vermittelt.

Das Buch

Im Gegensatz zum Film von Karel Reisz gibt es im Buch von Jean-Pierre Maurer und Robert Müller weder eine Hauptfigur noch eine stringente Handlung. Immerhin ist der Bilderfluss, der von bahnbrechenden Publikationen wie William Kleins "New York" (1956) oder Ed van der Elskens "Sweet Life" (1966) inspiriert ist, in vier Teile gegliedert, jeweils unterbrochen von der berühmten Gagarin-Friedenstaube:

Teil 1 trägt den Titel "A Taste of Honey" (in Anlehnung an die Beatles) und suggeriert den Beginn einer harmlosen Geschichte. Die in Schweden entstandenen reportageartigen Bilder enthalten aber auch Spuren und Zeichen, die die Befreiung von gesellschaftlichen Zwängen ankündigen.

Teil 2 heisst "Time Is On My Side" (die Rolling Stones lassen grüssen) und zeigt Aufnahmen aus Zürich, entstanden zwischen 1965-68. Hier werden absurde Happenings, die Suche nach Erleuchtung und allerlei groteske Inszenierungen im Studio vorgeführt. Um Porträts und Gruppenbilder herum entfalten sich kleine Geschichten, ohne dass sich daraus eine übergreifende Handlung ergibt.

Für Teil 3 ("A Face") reisten Maurer und Müller 1966 nach London, um die Energie der jungen Generation und die in der neuen Musik vibrierende Szene an der Quelle einzufangen spontane Nahaufnahmen und familiär wirkende Schnappschüsse sind Ausdruck eines Gemeinschaftsgefühls, das die Welt verändern wird.

Teil 4 besteht aus einer umfangreichen Serie von Bildern, in denen fotografische Vorlagen oder bekannte Symbole mit Hilfe einer Kopiermaschine zu rätselhaft wirkenden Abstraktionen verfremdet wurden. Der dokumentarische Anspruch der Fotografie verschwindet hinter einer zeichenhaften Bildsprache was die BetrachterInnen sehen, entspringt ihrer eigenen Fantasie. Die als Leitmotiv wiederkehrende Friedenstaube steht für den utopischen Impetus des ganzen Buches.

Die Ausstellung in der Fotostiftung Schweiz

Die Ausstellung folgt grob dem Ablauf des Buches, wobei das vierte Kapitel wie eine Klammer in die vorangehenden Teile integriert wurde (ausgestellt in den Wandnischen). Die Fotostiftung Schweiz konnte nicht nur die originale Buchmaquette von 1969 sichern, sondern auch sämtliche Fotografien, die bisher nur ein einziges Mal, nämlich 1968 im Zürcher Kunstgewerbemuseum ausgestellt wurden. Maurer und Müller hatten schon damals Doppelseiten zusammengestellt, um daraus eine Maquette zu produzieren. Jean-Pierre Maurer, der die Maquette bis heute aufbewahrte, steuerte viele zusätzliche Doppelseiten bei. Im Buch wurden diese letztendlich nicht verwertet.

Während die auf Doppelseiten montierten Vintage Prints relativ gut erhalten sind und nun in einer Auswahl hinter Glas präsentiert werden, sind die für den letzten Teil des Buches hergestellten maschinellen Kopien im Lauf der Zeit vergilbt und teilweise ausgesilbert was ihnen den Charme von historischen Dokumenten verleiht. Selbst in diesem Zustand beeindrucken sie durch ihre expressive Kraft und die gekonnte Umsetzung des billigen "Copy rapid"-Verfahrens, mit dem sich einige VertreterInnen der künstlerischen Avantgarde damals von klassischen Techniken abgrenzten.

Die ausgestellten Werke sind Teil einer Schenkung von Jean-Pierre Maurer; sie wurden 2022 in die Sammlung der Fotostiftung Schweiz aufgenommen.

fss

Kontakt:

https://www.fotostiftung.ch/http://www.fotostiftung.ch/

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Jean-Pierre Maurer / Robert Müller, aus Morgan Is Sad Today, 1968 © Jean-Pierre Maurer / Robert Müller

Bild: Jean-Pierre Maurer / Robert Müller, aus "Morgan Is Sad Today", 1968 © Jean-Pierre Maurer / Robert Müller

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