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Bibliotheken zwischen Horaz, Urhebern und Kindle

Bibliotheken zwischen Horaz, Urhebern und Kindle

16.09.2010 Intervention von Beat Kappeler (Bild) am Kongress BIS 2010, Text aus dem heutigen arbido-E-Newsletter 6/2010.


 

Zwei Sätze umreissen die Welt des Buches und der Bibliotheken, aus der wir kommen, welche aber schon nicht mehr unsere Welt ist: "Exegi monumentum aere perennius" (Horatius) ("Ich habe ein Denkmal errichtet, dauerhafter als Erz"). Und: „Das Einstellen von Goldmanns Taschenbüchern in Leihbüchereien, Volksbibliotheken, Werkbüchereien und Lesezirkel ist vom Verlag ausdrücklich untersagt" (Umschlagsnotiz von ca. 1961).

Immer noch Gutenbergs Welt

Horaz beschreibt hier das Büchermachen als Kunst, Ideen festzuhalten, Unvergänglichkeit zu schaffen und den Nachruhm des Autors zu begründen. Das Zitat aus Goldmanns Taschenbüchern versucht, diese ausserordentliche Stellung des Buches, seines Verlegers und seines Autors auch ökonomisch abzusichern.

Die Technik Gutenbergs verfestigte diese Errungenschaften und Absichten. Das Buch konnte zwar, im Gegensatz zu Handschriften, vervielfältigt, banalisiert werden als Eigentumsobjekt, blieb aber gesichert als nachhallender Ideenbesitz und als Vertriebsgewinn des Autors und Verlegers.

Die „technische Reproduzierbarkeit" (W. Benjamin) blieb grundsätzlich in den Händen der Urheber - der Verleger und Autoren. Gutenberg hatte einen riesigen Schritt in der Banalisierung gemacht, seine Technik aber erlaubte den Ideen- und Bucheigentümern immer noch, klare Grenzen der Verbreitung und Verfügbarkeit zu ziehen.

Das Goldmann-Zitat, die Urheberrechte, die proprietären Verkaufslinien bis hin zur - in der Schweiz wiederbelebten - Preisbindung zweiter Hand im Laden klingen aber an noch ganz andere Facetten des verflossenen Zeitalters an, nämlich an die Möglichkeit der Mächtigen, Bücher zu verbieten, ihre Verbreitung zu kontrollieren, Ideen zu stoppen.

Der „reale Sozialismus" in Europas Osten mit staatlichen Verlagen, verbotenen Kopiergeräten, fehlenden Telephonbüchern, und diese kommerziell motivierten Verbreitungssperren verraten beide ein - nunmehr verflossenes - Zeitalter des Buches, der Bibliotheken.

Das mag manchen etwas dick aufgetragen scheinen, wir lieben Vergleiche unserer vermeintlich liberalen Ideenwelt mit dem Totalitarismus nicht sehr.

Aber Techniken sind stärker als Absichten, Menschen benutzen sie, Mächtige, Eigentümer durchaus, und die bisherigen Techniken erlaubten massenhafte Verbreitung, aber kontrollierte Verbreitung.

Ab sofort: die konvergierende Netzwelt

Die neue Welt, wie sich Ideen, Geschriebenes verbreiten, speichern und nutzen ist erst 15 Jahre alt, verkörpert im Internet. Die breite Nutzung elektronisch vermittelter, verkaufter, konsultierbarer Texte in Form des e-books ist noch viel jünger, nur ein, zwei Jahre, wenn man auf die populäreren Formen des Kindle von Amazon.com, auf den Apparat von Sony oder auf den iPad von Apple abstellt.

Damit aber stecken wir in einer neuen Technik, die unsere Art von Textnutzung und -verbreitung bestimmen wird, stärker als Absichten, Gesetze dies gegenwärtig zu kontrollieren versuchen.  

Die entscheidenden Eigenschaften dieser neuen Techniken sind zweifach - sie digitalisieren die Inhalte, sie kennen keine Grenzkosten. Die Digitalisierung zwingt die früher getrennten Wiedergabetechniken und ihre Apparate zusammen, lässt sie konvergieren: Bücher, Zeitungen, Radio, bewegte Bilder, Photos, Tonband, Telephon, Briefe. Auch die entsprechenden Fabriken zur Herstellung ihrer Supportgeräte gehen unter. Alle Medien sind alles.

Die gegen null tendierenden Grenzkosten solcher Techniken, und vor allem ihrer Netze, bedeutet, dass jeder Nutzer, der sich einschaltet, alles gewinnt und nichts beiträgt, dass das Netz, die Inhalte sich explosionsartig und ohne Kosten für die Content-Hersteller verbreiten, und dass sich diese Verbreitung nicht mehr so leicht kontrollieren und rentabilisieren lässt. Mächtige und Eigentümer drücken sich mehr und mehr die Nase platt.

Nichts neues unter der Sonne?

Da wir morgen im Rolex Learning Center tagen, möchte ich eine kleine Kulturdiagnose anfügen. Dieser prächtige Bau und seine Installationen leisten nicht proportional mehr als meine für wenig Geld gekauften Apple-Produkte iPad, iPhone, MacBookPro und der Kindle von Amazon.

Wenn ich kühn bin, leisten sie sogar absolut kaum Entscheidenderes. Aber überall entstehen solch prächtige Bibliotheken, „la Très Grande Bibliothèque" in Paris, die Bibliotheken in Delft, Seattle, Birmingham. Dennoch sind dies für mich die späten Triebe, nach einem Höhepunkt, vergängliche Monumente aus Erz gemäss Horaz, die drohenden Mahnmale vor der Dekadenz.

Genau gleich luxuriert der „Novartis Campus" in Basel für eine Firma, deren Wert seit 13 Jahren fällt, ebenso suggerierte die von meinem Urahn Peter Thumb erbaute Stiftsbibliothek in St. Gallen eine glänzende Dauer - und war schon einige Jahre nachher durch die leicht verfügbaren, nicht kontrollierbaren Druckschriften des Boten Künzle aus Herisau irrelevant, weil er die Revolution lostrat, die das Kloster aufhob und völlig andere Inhalte brachte.

Wir können anfügen, dass die neuen Techniken, welche den heutigen Bibliotheken, dem Buch- und Verlagswesen mitspielen, nicht in „très grandes bibliothèques" und nicht in luxuriösen „learning centers" entstanden, sondern in Garagen und Hinterräumen. Also - konzentrieren wir uns auf die Digitalisierung und die gegen null sinkenden Grenzkosten, anstatt auf den schönen Schein des Betons. 

Die künftigen Geschäftsmodelle sind anders

Die Zukunft wird fortschreiten von der Technik zu neuen Geschäftsmodellen und zu neuen Funktionen und Formen von Bibliotheken. Die Technik selbst ist eine „Black Box" in der gesellschaftlichen, ideellen und wirtschaftlichen Entwicklung der Menschheit, also nicht voraussehbar.

Das hat sich mit dem Internet, das wirklich „ex machina" kam, erneut gezeigt. Gewisse menschliche Zufälle spielen manchmal mit, hier die Grosszügigkeit Tim Berner Lees, seine Variante des Internet nicht proprietär auszustatten. Er hat die Grenzkosten-Dynamik und die Konvergenzdiktatur des Digitalen gut eingeschätzt.

Autoren, Verleger, Textvermittlermedien müssen aber gelebt haben, ökonomisch. Die neuen Geschäftsmodelle zeichnen sich ab und umgehen die Nullgrenzkosten auf verschiedene Weise.

- Teils wird der Content gratis abgegeben und ins Netz gestellt, und das Einkommen mit verbundener Werbung generiert, mit Komplementärprodukten, oder mit der im Netz entstandenen, erhöhten „Aura" des Autors, des Künstlers, durch bezahlte persönliche Darbietungen.

- Oder die Inhalte werden, so gut es geht, mit technischen Vorrichtungen gesperrt oder erschwert zugänglich gemacht.

- Oder, damit verbunden, sie werden mit Micropayment-Systemen abgegeben.

- Oder man versucht es auf dem obrigkeitlichen Weg der alten Gesellschaft, etwa mit obligatorischen Rundfunkgebühren, die man nun auch auf PC's und Abspielgeräten erheben will. Dagegen findet sich hoffentlich laufend ein neuer Piz Groppera.

- Oder man baut auf die kombinierte Verbreitung über traditionelle Medien und die Netze, weil Nutzer der Bequemlichkeit halber für letztere wohl immer etwas zu zahlen bereit sind. So kaufe ich viele Bücher elektronisch auf Kindle, doch Referenzwerke weiterhin dazu noch auf Papier. Überraschenderweise steigert in den USA das elektronische, billigere Buch auch die Verkäufe seiner gedruckten Version. Geschichtlich gesehen hat sich noch jedes neue Medium den alten angefügt, sie nicht voll ersetzt.  

Die laufenden Verhandlungen rund um iTunes, iPad und kostenpflichtige Online-Zeitungen, um Buchverlage und e-books aller Arten sind daher spannend.

Hier entsteht die „république des lettres" des 21. Jahrhunderts.

Hinterwäldler und Ludditen (Maschinenstürmer)

Allerdings verstehen die europäischen und schweizerischen Verleger dies mehrheitlich nicht. Sie widersetzen sich der sofortigen Digitalisierung und Verbreitung neuester Werke. Sie und manche Autoren beharren auf dem unglaublichen Urheberschutz von 70 Jahren. Dieser schützt nur gerade die Urenkel der Autoren, und ein Hunderttausendstel der Verlagsproduktionen, die über diese ganze Zeit noch nachgefragt werden.

Dabei verkauft Amazon.com heute elektronisch bereits mehr Bücher als gedruckte, und nach einem guten Jahr des „Kindle" werden schon 8% aller US-Bücher so verkauft. Ich kann neueste Fachbücher und Fiction aus den USA oder England sofort haben - bisher mit der Post ging es sechs Wochen.

Der Leser fühlt sich verraten, der Autor auch. Denn die neuen Geschäftsmodelle erlauben geringere Verkaufspreise, aber ohne die früheren Papier- und Versandkosten, geben dem Verlag also die Marge wie vorher, sie erlauben eine höhere Tantième für den Autor.

Und mit der Zeit, wenn die Verlage sich dumm stellen, werden in Europa die Autoren gleich zu den elektronischen Vertriebsfirmen gehen und nur noch dort publizieren - und die ganze Marge einziehen.

Ich habe eingangs solche Monopol-, Urheberrechts- und Preiskartelle in die Nähe der diktatorischen Ideenbehinderung gerückt, die irgendwann von den Techniken weggespühlt wird. Ich denke, mit einem gewissen Recht.

Aber hat man je in Europa, in der Schweiz einen Vertreter der Glitterati protestieren hören? Sonst halten sie mit Protesten nicht zurück, hier verharren sie als träge intellektuelle Latifundienbesitzer. Aber alle wundern sich, dass die Angelsachsen nachher wieder kulturell und kommerziell den Ton angeben.

Die Bibliotheken

Für die Bibliotheken zeichnen sich - noch nicht ganz bestimmbar - die Folgen all dessen ab. Wenn die Verlagsproduktion, die Zeitungen, Zeitschriften dereinst mehr oder weniger elektronisch greifbar und günstig käuflich sind, reduziert sich die Rolle vieler Bibliotheken auf jene eines Archivs noch nicht digitalisierter Bücher, oder eines Archivs letzten Zugriffs bereits digitalisierter Bücher, die aber als physische Reserve und Grundlage gehalten werden.

Und Bibliotheken werden ihre „Bestände" auch vermehrt nur elektronisch halten. Der Nutzer wird diese einsehen können, günstiger als wenn er alle Werke für eine kurze Einsicht selbst herunterladen und kaufen müsste.

Doch diese Bibliothek ist kein Monument in Beton und Erz mehr, sondern ihrerseits ein elektronisches Netz. Vermutlich werden die konvivialen Angebote darum herum noch weiter als heute schon ausgebaut, von den Seminarräumen, Diskussionsecken, zu Mensen, Vortragsaulas und viel anderem mehr.

Aber eine Zuflucht sonst nicht greifbarer oder zu teurer Bücher werden Bibliotheken kaum mehr sein. Auch machen Kunstmuseen das Gleiche, haben Bibliotheken, Cafés, Literaturanlässe, Filmpodien, und Theater machen all dies auch.

Diese „Konvergenz" erscheint mir unnötig, auch teuer, ich bin für die Spezifizität von Kultureinrichtungen, und nicht mehr.

Vielleicht ergibt sich eine neue Beraterrolle. Die Nutzer, Studenten, Autoren, Zeitungsmacher werden die unermessliche Fülle der digitalisierten, greifbaren Inhalte verstehen, organisieren, durchsuchen, hierarchisieren müssen, um neues Wissen zu schaffen.

Sie möchten die Konvergenz von Bildern, bewegten Bildern, Texten, Musik beherrschen. Dies zu fördern ist Aufgabe künftiger Bildung, Ausbildung, und wahrscheinlich wird sich hier eine Konvergenz ergeben - Bibliotheken und Lernstätten sind dann das Gleiche.

Beat Kappeler


Quelle:

http://www.arbido.ch/fr/artikel_detail.php?m=1&id=1200&n=101

Kontakt:

Beat Kappeler

http://www.beatkappeler.info/

BIS Bibliothek Information Schweiz

http://www.bis.info/

 

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